Ein Käfig voller Narren !

Venedig ist eine Diva. Lange hat meine Annäherung an die „Stadt der Liebenden“ gedauert. Vielleicht deshalb, weil Venedig und Paris sich um diesen Titel streiten ? Beide Städte muss man mögen, man muss sich auf sie einlassen, was mir bei Venedig leichter fällt. Warum ? Ernest Hemingway hat es einmal so beschrieben:

„Es ist eine gute Stadt zum Spazierengehen. Wahrscheinlich die beste, die es gibt . Ich bin niemals hier umhergegangen, ohne dass es mir Vergnügen gemacht hätte. Ich könnte sie wirklich gut kennenlernen, dachte er; dann gehörte sie mir noch mehr“.

…wie alles begann

In diesem Jahr wollte ich zum Karneval. Ich bin vom Gemüt kein „Fasnachter“. Narri Narro, Alaaf und Helau sind mir fremd. Verkleidung; – in die Haut eines anderen schlüpfen, das ist nichts für mich. Große Menschenansammlungen meide ich, wo immer es geht. Aber all dies macht den „Carnevale di Venezia“ aus. Vielleicht stiller und nicht so reißerisch, ohne Kamelle und ohne „Töftööön“; aber mit Menschenmassen, die einer „La Ola – Welle“ gleich durch die Stadt schwappen und mitunter zum Tsunami werden. Warum muss man sich das antun; warum muss ich diese Bilder haben? Millionen und Abermillionen Photos vom Karneval in Venedig haben das Internet überflutet. Der Grund ist ganz einfach. Ich bin ein enthusiastischer Portraitphotograph, und die Narren, die alljährlich nach Venedig pilgern um an den tollen Tagen ihr Gesicht in die Kamera zu halten; – auch wenn es nicht das eigene Gesicht ist, sondern sich unter einer Maske verbirgt, die wollen photographiert werden. Eine gewisse narzisstische Ader muss man den Larventrägern wohl unterstellen, aber „Narr“ steckt ja als Wortstamm auch bereits ein wenig in Narzissmus. Ich meine das gar nicht wertend. Nein. Ein wenig steckt auch Bewunderung darin, dass Menschen aus aller Welt hierher reisen um sich ein bis zwei Wochen in ihren prächtigen Kostümen bestaunen zu lassen. Und letztendlich ist auch der Photograph von einer Obsession getrieben; – der Jagd nach dem ultimativen Photo. Nach dem Warum gefragt, würde ich keine vernünftige Antwort geben können, außer vielleicht die jenes römischen Geizhalses, der meinte: „populus me sibilat, at mihi plaudo Ipse domi simul ac nummos contemplar in arca. Was soviel heißt wie: „Das Volk pfeift mich zwar aus, aber ich zolle mir Beifall und betrachte zuhause die Münzen im Kasten“.

Was macht den Karneval in Venedig aus ? Was unterscheidet ihn von Rio, New Orleans, Mainz oder Köln ? Das fängt schon bei den Wurzeln an: Der „pullus carnisbrivialis“ findet erstmals in den Chroniken des Jahres 1094 Erwähnung; – blickt also auf eine 1000-jährige Tradition zurück ! Bei uns beginnt Fasnacht traditionell am 11.11. um 11:11 Uhr. Seit alter Zeit begann der Karneval in Venedig alljährlich am Stefani-Tag. Zu Zeiten als Venedig noch Republik war, und zu den mächtigsten Handelsnationen der Erde zählte, war der Donnerstag vor Aschermittwoch der eigentliche Beginn des Fastentreibens. Dieser Tag markierte zugleich den Tag des Sieges über das konkurrierende Aquileia. Der Tag war Auftakt für Feierlichkeiten, an denen der Doge und die höchsten Würdenträger der Republik teilnahmen. Auf dem Markusplatz wurde Feuerwerk abgebrannt, und die Zunft der Schmiede und der Metzger schlachteten Ochsen und Schweine. Das blutige Treiben wurde ab 1420 durch harmlosere Belustigungen abgelöst. In heutigen Tagen wird der Carnevale 10 Tage vor Aschermittwoch mit dem Engelsflug eröffnet. Vom Campanile schwebt ein Engel zum Dogenpalast hinab und gibt den Startschuss für das Treiben der Masken.

…der Stoff aus dem die Träume sind

Ursprünglich wurden im Carnevale di Venezia Halbmasken getragen, die nur einen Teil des Gesichtes bedecken. Viele Figuren des Kanevals sind der Commedia dell’ arte entliehen. Da gibt es die schlaue Colombina, die Pulcinella, den Harlekin mit seinem Flickenanzug und den alternden Geck Pantalone. Doch die traditionellen Charaktere weichen der Moderne: phantasievoll sind die Masken und Verkleidungen, in denen Narren aus aller Welt an den tollen Tagen die Piazetta bevölkern. In diesem Jahr steht der Karneval unter dem Motto „Viva i colori“, und das muss man wörtlich nehmen. Die Farbenvielfalt der Kostüme ist überwältigend. Für Gewänder und Roben werden edelste Materialien verwendet: Pelz, Federn, Tüll, Samt und Seide, Leder, pailletten-verzierte Stoffe; – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Doch der Stoff, aus dem die Träume aller Narren sind, ist Papier. Echte venezianische Masken werden aus Pappmache gefertigt. Der Herstellungsprozess ist aufwendig. Altpapier wird in Wasser und Kleister zu einem Brei angerührt und dann in einer Bleiform ausgeformt. Viele Stunden dauert es bis der „Teig“ durchgetrocknet ist und bemalt werden kann. Die Maskenmacher oder „Maschereri“ gehörten von je her zur Malergilde von Venedig und erhielten im Jahr 1436 vom Dogen sogar eine eigene Satzung. Bis heute sind nicht alle Masken „mad(e) in China“. Wenn man durch die ruhigeren Gassen Venedigs schlendert, kann man vereinzelt noch Maschereri finden, die häufig im Schaufenster ihrer Läden sitzen und Ihr Kunstfertigkeit präsentieren. Ca‘ Macana im Viertel Dorsoduro ist ein solcher Maschereri. Zu Carnevale bilden sich Schlangen vor dem kleinen Laden um eine dieser papierenen Kostbarkeiten zu erwerben. Doch wie alle Kostbarkeiten auf Erden haben auch diese ihren Preis. Wer in Venedig Narr auf Zeit sein will, der muss schon tief in die Tasche greifen. Ein preiswertes Vergnügen ist es nicht.

…Flucht aus Venedig

Die meisten werden dabei an Casanova denken: Der berühmte Frauenheld war 1755 wegen „Schmähungen gegen die heilige Religion“ verurteilt worden und flüchtete nach 15 Monaten Haft aus den berüchtigten Bleikammern. Ein unerhörter Vorgang für damalige Zeit, waren die Bleikammern doch so etwas wie das Alcatraz Venedigs; – angeblich absolut ausbruchsicher. Meine Flucht dagegen ist unspektakulär. Vier Tage Carnevale di Venezia und zahlreiche Photo-Sessions liegen hinter mir. Harte Arbeit; muss man sich doch im Gedrängel behaupten. Geduld muss man haben und ein wenig Spürsinn, wann und wo man zu den besten Einstellungen kommt. Bis zum Abflug bleiben mir noch einige Stunden. Am frühen Morgen wärmen die ersten Strahlen der Frühjahrs-sonne. Es ist ein strahlender Tag. Den will ich für einen Spaziergang im hemingway’schen Sinne nutzen. Doch nach San Marco ist kein Durchkommen. Menschenmassen schieben und drängeln sich durch die Gassen. In Richtung Rialto, das gleiche. Ich beschließe aus Venedig zu flüchten. Ich werde wiederkommen; – ganz bestimmt ! Im November, wenn das letzte Laub gefallen ist, die Stadt kurz vor dem Winterschlaf steht und jenen morbiden Charme versprüht, dem man sich nicht entziehen kann. Am besten hat es vielleicht die Lyrikerin Rose Ausländer in ihrem Gedicht „Mein Venedig“ beschrieben:

Venedig
meine Stadt

Ich fühle sie
von Welle zu Welle
von Brücke zu Brücke

Ich wohne
in jedem Palast
am großen Kanal

Meine Glocken
läuten Gedichte

mein Venedig versinkt nicht !