Timur’s Füllhorn – Erntezeit an der Seidenstraße

Selten hat mich ein Land so in seinen Bann gezogen. Es ist September, die Tage noch warm und sonnig, die Nächte bereits kalt. Man spürt den nahen Herbst. Der schwere Duft abgeernteter Felder liegt in der klaren Luft.

Wir sind nochmals nach Samarkand gereist in die alte Hauptstadt der Timuriden. In alter Zeit Knotenpunkt für Karawanen auf der nördlichen und südlichen Route der Seidenstraße. Kurz bevor wir die Stadt erreichen, haben Händlerinnen wieder ihre Obststände aufgebaut. Melonen aller Art: Honigmelonen, Wassermelonen, Netzmelonen, liegen sauber aufgestapelt am Straßenrand.

Die Frauen verkaufen saftige Äpfel, einem Abakus gleich in Steigen aufgestaffelt. Im Frühjahr habe ich hier schon einmal zum Fotografieren halt gemacht. Die mitgebrachten Bilder schaffen sofort Kontakt und schlagen die Brücke zu den Portraitierten.

Gegen Mittag erreichen wir Samarkand und machen Quartier im kleinen Malika-Hotel, das ruhig in einem Randbezirk liegt. Malika ist eine kleine, privatfinanzierte Hotelkette, die usbekische Gastlichkeit mit geschmackvollem zentralasiatischem Ambiente verbindet. An den lauen Abenden sitzen wir auf einem Diwan unter der überdachten Patio mit ihren geschnitzten Säulen und lassen uns mit usbekischen Spezialitäten verwöhnen. Es gibt Schorpa – die usbekische Nationalsuppe mit Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, Somsa – ein Blätterteiggebäck mit Fleischfüllung, Mantys – gedämpfte Teigtaschen mit Lammfleisch und natürlich Plov – den unnachahmlichen Reiseintopf, dazu, das ist neu – Starbast, ein Bier aus Samarkand, – und natürlich das unvermeidliche „Wässerchen“.

Am kommenden Morgen bin ich früh unterwegs. Es ist kurz vor 6:00 Uhr als ich zum Registan aufbreche. Registan heißt wörtlich übersetzt soviel wie Sandplatz. Im mittelalterlichen Orient war dies der Ort, an dem reges Markttreiben herrschte, der Herrscher Erlasse verkündete, Hinrichtungen und Militärparaden stattfanden. Mitte des 15. Jahrhunderts begannen die Timuriden-Herrscher den Platz zum „glanzvollen Antlitz der Erde“ umzugestalten. Mit dem Bau der Medresen Ulug’bek, Sherdor und Tillakori erhielt der Platz sein heutiges Gesicht. Zu allen Zeiten waren die Medresen nicht nur Gelehrtenschulen des Islam, es gab auch Karawansereien, in der Pilger eine Herberge fanden und Moscheen für die Gläubigen, die ihr Gebet verrichten wollten. Heute gehört der Registan zum Weltkulturerbe.

Der Wahlspruch der Timuriden

„glücklich ist, wer die Welt verlässt, bevor die Welt auf ihn verzichtet!“ …      

sollte besser lauten „Glücklich ist, wer die Welt verlässt, und an den die Welt sich erinnert.“ Im Angesicht der monumentalen Architektur, werden sie wohl unvergessen bleiben ? Umso verwunderlicher ist es, dass man zu so früher Morgenstunde unbehelligt durch die Medresen streifen kann. In Deutschland wäre so etwas unmöglich. Ich bin ganz allein auf dem großen Platz. Niemand sonst ist hier um den Sonnen- aufgang mitzuerleben; wenn das erste Sonnenlicht die Kuppeln, Minarette und Mosaikfassaden von Minute zu Minute schöner erstrahlen lässt. Wer jetzt die Augen schließt und nur auf seine innere Stimme hört, mag in seiner Phantasie in der Ferne die Karawanen hören, die der Wüste entronnen dem „Mittelpunkt des Weltalls“ zustreben.

Erst kurz vor 8:00 Uhr, bevor der Registan offiziell öffnet, beginnt die Staatsmacht ihren Dienst und vertreibt die frühen Besucher, – nicht ohne den Hinweis, dass für ein Bakschisch von 3.000 Sum eines der Minarette erklommen werden kann. Wer die Bilder der melonenförmigen, mosaik-geschmückten Kuppeln in sich trägt, kann auf dieses Vergnügen sicher verzichten. Einige Male besuchen wir in dieser Woche den Registan zu verschiedenen Tageszeiten. Wir sitzen auf einer Bank auf der Empore um den Sonnenuntergang zu erleben oder durchstreifen die Innenhöfe der Medresen. Zu den unvergessenen Augenblicken jedoch zählt jener frühe Morgen der Einsamkeit und Stille auf dem Platz an dem sich Sonne und Mond begegnen.

Auf dem Weg zurück zum Hotel, dort wo die Registon Kochasi in die Yuldush Axunbabaev Kochasi mündet, mache ich halt, denn hier, unweit von Gur Emir sitzt Timur überlebensgroß in Bronze gegossen auf seinem Thron. Den alten, eingeschmolzenen Lenin, der hier in der Sowjetzeit gen Osten blickte, hat man zu Timur umgearbeitet. So ersetzt ein Gewaltherrscher den anderen. Einige Male hatte ich versucht das Denkmal zu fotografieren, doch immer lag Timur im Schatten, – oder war es sein Schatten, der auf Samarkand liegt ? Jedenfalls gelingen mir an diesem Morgen die Bilder, die ich mir vorgestellt habe. Am Nachmittag will ich wieder hier sein, denn in der Verlängerung dieser Kreuzung liegt Gur Emir, das Grabmal von Tamerlan dem Großen und anderer Timuriden-Herrscher.

Das Mausoleum Gur Emir ließ Timur für seinen geliebten Enkel Muhammed Sultan errichten, der im Jahr 1403 unerwartet starb. Dass er selbst ihm nur 2 Jahre später nachfolgen sollte, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Sein Riesenreich hat ihn nicht lange überdauert und kurz nach seinem Tod begannen die Verteilungskämpfe und sein Imperium zerfiel. Bei meinem Besuch im Frühjahr hatte ich mich mehr mit den Äußerlichkeiten des Komplexes beschäftigt, jetzt mit mehr Zeit und Muse, erkenne ich die wahre Pracht der Ausgestaltung im Inneren. Die Wände sind geschmückt; goldene Reliefs mit Koransuren winden sich an den Wänden entlang, und die Kuppel erstrahlt in goldenen Einlegearbeiten. Immer wieder treten Pilgergruppen in die Grabkammer und verharren betend in Verehrung des schon lange Dahingeschiedenen. Inmitten weißer Marmor-Sarkopharge, in denen so bedeutende Herrscher wie Ulug’bek ihre letzte Ruhestätte fanden, steht ein schwarzer Nephrit-Sarkopharg – Hier ruht Timur. Nach alten Prophezeiungen und einer Grabinschrift, soll die Welt erzittern wenn man seine Ruhe stört. Im April 1941 öffneten sowjetische Archäologen und Anthropologen die Gruft. Die Überreste, die sie fanden, waren die eines ca. 1,70 m großen Mannes, der an Tuberkulose litt und ein zu kurzes Bein hatte, was ihm den Beinamen Timur Lenk (Timur der Lahme) eintrug. Tags darauf begann die Wehrmacht ihren Angriff auf die Sowjetunion. Als seine Gebeine 1942 wieder bestattet wurden, bahnte sich mit der Schlacht von Stalingrad die Wende des 2. Weltkrieges an. Erfüllung einer alten Prophezeiung ?

Natürlich stehen auch die große Moschee Bibi Xanom und der Besuch des Basars auf dem Programm. Jetzt im Herbst scheinen die Verkaufsstände fast unter der Last der frischen Früchte zu brechen. Granatäpfel, Chili und Paprikaschoten in leuchtendem rot. Orange Aprikosen, gelbe Melonen viele grüne Kräuter, frisch gebackenes Brot schwängern die Luft mit allen Wohlgerüchen des Orients. Wir haben hier leichtes Spiel. Die Bilder von unserer Frühjahrstour schlagen sofort wieder die Brücke zu den Menschen. Außerdem ist Tomlas, unser Fahrer und Übersetzer ein wahrer Goldschatz, dem es immer wieder gelingt, die Fotografierten ausfindig zu machen. So fallen uns neue Aufnahmen leicht und man bekommt schnell Kontakt, wenn gegenseitige Neugier die Sprachbarrieren überbrückt. Mit einem Knoblauch-Verkäufer, der als Soldat in der DDR stationiert war, kommen wir ins Gespräch. Er erzählt von einer harten Zeit in fremdem Land, von Erfurt, Wünsdorf und Karlshorst und dem Heimweh nach Samarkand. Im Schatten der großen Moschee kann ich seine Sehnsucht all zu gut verstehen.

Später am Tag besuchen wir Haji Baba, den Chef der Seidenteppich-Manufaktur Bukhara and Samakand Silk Carpets Corp. Er strahlt, denn am Ende der Touristensaison sind seine Bestände geringer geworden und er hat guten Umsatz gemacht. Die Beschäftigung für die vielen hübschen Mädchen, die mit flinken Fingern wahre Kunstwerke knüpfen, ist gesichert. Unser Fotoshooting ist willkommene Abwechselung und nachdem die Girls anfänglich etwas schüchtern sind, stellt sich schon bald fröhliches Gekicher ein. Als wir Abschied nehmen, habe ich – wie kann es anders sein, einen Teppich im Gepäck. Im Winter, wenn es draußen trist und grau ist, werden mich seine leuchtenden Farben an die schönen Tage in Samarkand erinnern.

Den kommenden Tag widmen wir vollständig der Stadt der Toten – der Nekropole von Shohizinda. Bereits kurz nach 8:00 Uhr stehen wir am Eingang und sind die ersten Besucher die Einlaß begehren. Wir haben  die Anlage ganz für uns; können in Ruhe verweilen und die Eindrücke in uns aufsaugen. Von Norden nach Süden befinden sich Mausoleen und Moscheen, wie an einer Perlenkette aufgereiht. Majoliken in allen nur erdenklichen Blautönen stehen in klarem Kontrast zu den sandfarbenen Lehmziegeln des Mauerwerkes. Die ersten Grabstätten entstanden bereits im elften und zwölften Jahrhundert. Im 13. Jahrhundert zerstörte Dschingis Khan die Anlage. Die meisten Mausoleen wurden in der Regierungszeit von Ulug’bek wieder aufgebaut, viele sind mit arabischen Inschriften aus dem Koran verziert. Die Innenräume sind mit Terrakottaschnitzereien ausgestaltet. Schwere Türen mit feinziselierten Beschlägen bewahren die Kühle der Andachtsräume vor der Hitze des Tages. Der anschließende Friedhof lohnt ebenfalls einen Besuch. Die Grabsteine sind eine Mischung aus Inschriften in kyrillischer Sprache und muslimischer Symbolik. Häufig sind die Gedenktafeln mit dem Bildnis des Verblichenen geschmückt und weisen auch Bezüge zu seinem Leben auf. Mit einem gewissen Schmunzeln finden wir auf einem Grabstein einen Lada und eine Motocross-Maschine, der Dahingeschiedene wird also wohl ein Rennfahrer gewesen sein.

Am Nachmittag lassen wir uns auf der Rückseite des Friedhofs absetzen und schlendern durch die Grabreihen. Es lohnt sich zum Sonnenuntergang wieder hierher zu kommen. Die tiefersinkende Sonne lässt die Kuppeln in einem warmen Licht erstrahlen und man hat eine Perspektive, die der Mehrzahl der Besucher entgeht, die sich nicht hierher wagen.

Nach einer letzten Nacht im liebgewonnenen Malika-Hotel brechen wir auf in Richtung Nurata. Noch bevor wir die Brücke über den Serafschan überqueren stehen wir in einem Verkehrsstau. Tomlas flucht. Der Tag wird uns zeigen warum. Wir schieben uns durch das Verkehrsgewühl und kommen nur schrittweise vorwärts. Heute hat die Regierung Ernteeinsatz befohlen. Lange Schlangen alter, klappriger Lastwagen aus der Sowjetzeit transportieren Feldbetten und Matratzen. Weiter vorne, die Flotte der Samarkander Busbetriebe, die Schüler und Studenten aufs Land bringen. Polizei und Miliz sind im Großeinsatz. Es wird gestikuliert, diskutiert, geschimpft, die roten „Taktstöcke“ geschwungen und Trillerpfeifen finden reichlich Einsatz. Schließlich kommt der Verkehr ganz zum Erliegen. Auf der zweispurigen Straße Richtung Nurata, stehen wir in 4 Reihen in eine Richtung zwischen all den Kamaz, Wolgas, Ladas und Moskwitsch. Schlußendlich löst sich der Knoten doch und es geht vorwärts. Bald sind wir auf dem flachen Land, links und rechts der Straße erstrecken sich Baumwollfelder soweit das Auge reicht. An einem Feld auf dem viele Schulkinder pflücken, machen wir halt und sind sofort willkommene Ablenkung von der monotonen Arbeit bei drückender Hitze. Überall auf den Feldern sind die helfenden Hände aus der Stadt willkommen. Ich frage, warum soviel Baumwolle angebaut wird, wo doch die Preise für Baumwolle auf dem Weltmarkt im freien Fall sind, die Erntearbeit arbeitsintensiv und der Wasserverbrauch mit den damit verbundenen Schäden für die Umwelt groß ist ? Man weiss so recht keine Antwort, es wachse nichts anderes auf den kargen Böden ! Das kann aber nicht stimmen, wenn man die Vielfalt an Obst und Gemüse auf den Basaren bedenkt. Früher, als es noch die Sowjetunion gab, sei die Anbaufläche viel größer gewesen und man habe keine Absatzprobleme gehabt, die Baumwolle sei in alle Sowjetrepubliken gegangen.

Zur Mittagszeit treffen wir in Nurata ein. Ein verschlafenes Kaff in der Provinz ohne große Ausstrahlung,  letzter Vorposten der Zivilisation, bevor man sich in der Weite der kasachischen Steppe verliert. Als wir das Ortsschild im Rückspiegel haben liegt vor uns nur Wüste. Hier kann man im wahrsten Sinne des Wortes Montags schon sehen wer Samstags zu Besuch kommt. Verglichen mit den großen Sandwüsten der Sahara oder der Namib, ist das hier eigentlich keine Wüste, sondern eine endlose, topfebene Fläche mit dürrem Büschen und Sträuchern. Nach gut 2 Stunden kommt der Aidarkul-See in Sicht mit gut 3.000 km² Fläche, ein Segen für die Karakulherden, die den kargen Bewuchs der Steppe abweiden. Kurz darauf erreichen wir das Aidar Yurt-Camp, unser Ziel.

Das Camp gehört Alexander, einem Russen, dem man schon auf den  ersten Blick den ehemaligen Soldaten ansieht. Er hat in der Einöde zehn typische Jurten aufgebaut und beglückt Touristen mit Kamelritten und Ausflügen in die Umgebung. Im ersten Moment bin ich etwas angefressen. Was soll man um Gottes Willen hier zwei Tage lang treiben ? Doch der erste Unmut eines rastlosen Reisenden legt sich bald, und wir verbringen erinnerungswerte Tage. Wir beobachten die Kinder aus dem nahen Dorf beim Holzsammeln, machen einen Ausflug in die Sarmish-Schlucht und erklettern uns die jahrtausend alten Petroglyphen in den Felswänden.

Auf der Rückfahrt verbringen wir einige Stunden in einem Baumwollfeld und schauen den Pflückerinnen bei der Arbeit zu, wie ein ums andere Bündel am Feldrain entlang geschleppt und die weiße Fracht gewogen und verladen wird. Als wir wieder aufbrechen stehen die Mädchen am Straßenrand und winken uns nach, fast so als ob wir alte Freunde wären.

Als wir ins Camp zurückkommen hat Alexander ein Festmahl vorbereitet und es gibt Wodka – nicht aus der Flasche, sondern aus einem 1.000 ltr. Tank. Wahrscheinlich kann man die Tage in der Einöde nur mit einem ordentlichen Vorrat dieses russischsten aller Grundnahrungsmittel ertragen. Wir sind immer noch die einzigen Gäste. Aber morgen sagt, Alexander, morgen, da kommen 70 Franzosen. Ein Glück, dass wir dann schon wieder auf dem Weg sind.

Als die Sonne hinter den Horizont sinkt, wird es schnell dunkel und auch empfindlich kühl. Wir zünden ein Lagerfeuer an. Aus dem Dorf ist ein kasachischer Sänger gekommen und müht sich nach Kräften. Nach einer Stunde stellt er seine Bemühungen ein. Die Klänge sind doch zu fremd für unsere Ohren Wir sitzen am Feuer, schauen in die züngelnden Flammen und plaudern mit unseren neugewonnen Freunden. Schließlich holt Yuri, einer von „Alexanders Boys“, seine Gitarre aus der Jurte und beginnt zu singen. Es sind Lieder von der Zeit in der Armee, von Heimweh und Müttern deren Söhne nie zurückkehrten. Wir lauschen ganz gebannt, mucksmäuschenstill. Es sind Lieder mit Tiefgang und russischer Seele. In jeder besseren Welt hätte der talentierte junge Mann sicher eine große Karriere vor sich, doch hier in der Weite der kasachischen Steppe, verhallen seine Lieder – aber uns; uns wird dieser Abend unvergesslich bleiben und ich denke an ein Wort von Oskar Maria Graf:

…Reisen sollte nur ein Mensch, der sich ständig überraschen lassen will !