Seidenstraße – verwehte Spuren !
Vor einem Jahr waren ich auf der Heimreise von Uskekistan nach Deutschland. Auf der Anzeigetafel im Flughafen von Taschkent steht HY 854 Urumchi Gate 3. Wo zur Hölle liegt Urumchi ? Zuhause den Atlas zu Rate gezogen und gelernt, dass dies die Hauptstadt der Provinz Xinjiang in China ist, und ganz dunkel, bruchstückhaft erinnere ich mich …Sven Hedin…“Durch Asiens Wüsten“.
Das hätte sich der alte Sven Hedin nicht träumen lassen ! – Die kleine Oasenstadt Urumchi ist heute eine Metropole mit mehr als 2 Millionen Einwohnern, quirlig, schrill, bunt und laut. Vorweggenommen sei hier die Erfahrung, dass dies auf alle „kleinen Oasen“ auf dem chinesischen Teilstück der Seidenstraße zutrifft. Es wird eine schwierige Reise werden, weil ein konservativer, der Tradition verhafteter Europäer, die Bilder in seinem Kopf und seiner Phantasie nicht mit der heutigen Realität in Einklang bringt. Ich wollte auf der alten Seidenstraße reisen ! Doch ich greife vorweg…
Nachdem ich die freundliche, aber langwierige Einreiseprozedur überstanden haben, treffe ich Winnie. “Hi I’am Winnie, your local guide“, begrüßt sie mich lächelnd. Winnie ist der Künstlername der kleinen Chinesin, deren richtiger Name für mich unaussprechlich bleibt. Sie ist nett, aber das in China erlernte English wird häufig zu Rückfragen und Missverständnissen führen; doch das weiß ich jetzt am Anfang der Reise noch nicht; …und es bleibt das Lächeln.
Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt, wird der arme Tourist, wie so oft mit Daten und Fakten überhäuft und der ganze Verlauf der Reise geschildert, die ja jetzt erst beginnt. Warum soll man schon an das Ende denken ! Mir geht es hier immer so wie beim Erklären der „safety regulations“ im Flugzeug, meine Gedanken schweifen ab. Als Winnie die Einwohnerzahlen herunterspult und von 75% Han-Chinesen, und 13% „weaker people“ spricht, frage ich aber nach. Weaker people ? Was sind das für Leute ? Kleine Sprachverwirrung! Winnie meint die Uiguren, eigentlich die Herren dieses Landes, doch heute bereits, eine Minderheit. Erst später fällt mir diese Sprachverwirrung wieder ein. Chinesen nehmen die Uiguren tatsächlich als „weaker people“ wahr. Leute, die am Tropf der Zentralregierung in Peking hängen; ungebildete, faule Bauern eben.
Urumchi, das ist die Moderne. Mitten in der Stadt steht als architektonisches Glanzlicht das Völkerkundemuseum. Neu gebaut mit viel Glas und Marmor, präsentieren sich auf mehreren Ebenen um eine Rotunde herum die Kulturen und Völker Xinjiangs:…. Uiguren, Hui, Mongolen, Kasachen, Kirgisen, Usbeken, Mandschu, Xibe, Tataren; im Ganzen mehr als 13 verschiedene Ethnien. Wie schön wäre es, wenn China diese Vielfalt nicht nur im Museum sondern auch im täglichen Zusammenleben schätzen würde.
Die Museumstour ist straff organisiert, der Eintritt wegen der diesjährigen olympischen Spiele in Peking kostenlos. Der Museumsführer ruft….“follow me ! attention ! don’t loose knowledge !” und schon hasten wir durch die “Mumienabteilung” und legen die Seidenstraße in 20 Minuten zurück. Wieder draußen; – das Museum schließt pünktlich um 17:00 Uhr, – überrascht mich ein Platzregen but don’t worry, we will have dinner tonight at a very special place, versichert Winnie. Und „very special“ wird es dann auch. Der Speisesaal des Restaurants gleicht der Wartehalle eines Bahnhofes, in dem 500 Chinesen auf die Abfahrt des Zuges warten und wie auf den Pfiff eines Schaffners, nicht zur Bahnsteigkante sondern ans Büffet stürzen um wenig später mit total überladenen Tellern auf Ihre Plätze zurückkehren. Die wenigen Langnasen, die man zudem auf die „Mitmachplätze“ in der ersten Reihe verfrachtet hat, streben erst jetzt dem stark gerupften Büffet entgegen und sehen dem nächsten Problem entgegen, das der Nahrungsaufnahme entgegen steht.
Viele Dinge sehen verlockend aus. Aber was ist das eigentlich ? Lebt es noch ? Ist das scharf, süss oder sauer ? Niemand spricht englisch ! Es gibt nur noch kleine Teller und leider auch kein Werkzeug, mit dem man die inzwischen identifizierte Wan-Tan-Suppe gefahrlos zu sich nehmen könnte. Auf diese Weise bleibt die kulinarische Kontaktaufnahme mit dem Gastland an diesem Abend überschaubar.
Der Geräuschpegel im Speisesaal schwillt an und sehr bald kann man seinen Tischnachbarn nur noch mit Handzeichen auf sich aufmerksam machen. Man lernt hier einiges über chinesische Tischsitten. So gilt hier nicht als fein, alles aufzuessen, was man sich auf den Teller geladen hat, zumindest stehen in einer Nische des Speisesaals Mülltonnen, in die die Kellner alles entsorgen was der Gast verschmähte.
Chop-Sticks sind auch für geübte Chinesen unpraktisch wenn es zum Beispiel um den Verzehr hart gekochter Eier geht, allerdings sehr praktisch, da man während die rechte Hand die Stäbchen zum Mund führt, man mit links noch eine Zigarette halten kann. Der Zug am Glimmstengel zwischen zwei Bissen stört einen Chinesen genauso wenig, wie das Rülpsen oder Schlürfen seines Tischnachbarn, der damit höchstes Wohlbehagen zum Ausdruck bringt.
Mit einem Schlag wird es still im Saal. Das Unterhaltungsprogramm beginnt. Viele hübsche Mädchen in bunten Kostümen füllen die Bühne und tanzen. Folklore „ohne Volk – für das Volk“. Es gibt einige gute Parterreakrobaten und eine erstklassige Flötistin. Die Chinesen im Saal sind begeistert und wir, die Langnasen, haben große Mühe die vielen Mitmach-Angebote abzuwehren. Nach 2.1/2 Stunden endet die Veranstaltung so abrupt, wie sie begonnen hat.
Am nächsten Morgen bin ich on the road nach Osten. Ich will nach…
Turfan,
jenem Platz auf unserem Planeten, der nach dem Toten Meer am tiefsten gelegen ist. Im Schnitt liegt die Turfan-Senke 150 m unter dem Meeresspiegel. Vorbei an riesigen Windparks, führt die gut ausgebaute Straße beständig abwärts. Turfan ist eine Windecke; Stürme bis zur Orkanstärke sind nicht selten. In der Ebene sieht man kleine Windhosen die den Sand aufwirbeln. Gegen Mittag besuchen ich etwas außerhalb von Turfan das Karez – Museum. Das System der unterirdischen Kanäle, die das Schmelzwasser aus den Tien-Shan Bergen in die Turfan-Senke leiten, ist mit ca. 5.000 km Länge nur unwesentlich kürzer als die „Große Mauer“. Das Wasser aus den Bergen ist so rein und klar, dass sich auch kleine Fische im Kanalsystem wohlfühlen. Ohne die Karen wäre der fruchtbare Boden von Turfan Wüste wie die Gobi oder die Taklamakan.
Nicht weit von Turfan entfernt liegen auf einem Felsplateau über dem Yamaz Tal die Ruinen der alten Königsstadt Jiaohe. Bereits im ersten vorchristlichen Jahrhundert war hier eine Hauptstadt. Ihre Blütezeit erlebte sie während der Tang-Dynastie zwischen 640 – 658 n. Chr.
Was hatte ich nicht alles in Vorbereitung auf diese Reise entlang der Seidenstrasse gelesen ! Zahllose Reiseführer gewälzt, die Reiseberichte von Sven Hedin und Sir Aurel Stein studiert. Trotzdem bin ich überrascht; – fast nichts entspricht meiner Vorstellung !
Die Ruinenstadt Goachang, die 1000-Buddha-Höhlen von Bezeklik, die Astana Gräber, das „Tal der Weinreben“, das Karen – Museum, in meiner Erwartung Höhepunkte der Reise sind zu einer Art chinesischem Disneyland verkommen, wo elektronische Drehkreuze den Einlass regeln und eine metallische Stimme aus dem „Off“ den Besucher willkommen heißt. Allzu oft sind diese Stätten des Weltkulturerbes so heruntergekommen, dass ein Besuch nicht lohnt. Auch wenn es europäische Archäologen waren, allen voran die deutschen Albert von Le Coq und Albert Grünwedel, die in den Buddha-Höhlen „gewütet“ haben, hätte ich bei der enthusiastischen Schilderung in der Reiseliteratur und der jahrtausend alten chinesischen Kultur, – auf welche die Chinesen zu Recht stolz sind – einen besseren Erhaltungszustand erwartet.
Bei Sonnenuntergang will ich die Sugongta – Moschee mit dem 30 m hohen E’min Minarett fotografieren. Aber auch hier gibt es, wie an jeder der bisherigen Sehenswürdigkeiten, Diskussionen darüber, ob fotografiert werden darf. Mit Stativ und Kamera bewaffnet sieht man eben immer ein wenig aus, als ob man Unannehmlichkeiten bereiteten könnte. Am Ende setze ich mich hartnäckig durch… immer schön lächeln und das Gesicht nicht verlieren ! Aber auch sonst stößt man als Fotograf auf Widrigkeiten, mit denen man nicht gerechnet hat. Mit der „One China Politik“ hat die Pekinger-Zentrale angeordnet, dass es in China keine Zeitzonen gibt. Überall gilt die gleiche Zeit. Das klingt zunächst sinnvoll, so kann sich der Kaufmann in Peking oder Shanghai mit dem Rosinenhändler in Turfan zu gleicher Zeit über die Preise streiten. Doch während in Peking bereits alle schlafen gegangen sind, stehe ich um 8 Uhr abends noch immer an der Moschee und warte, dass das warme Licht der sinkenden Sonne weiche Schatten der Kuppeln und Zinnen auf das Backstein-Mauerwerk zeichnet.
Die Sugonta – Moschee ist trotz ihrer Schlichtheit, mit den feinen Ziselierungen im Mauerwerk und ihrer einfachen Eleganz, für mich der Höhepunkt des Tages. Während ich dem Ausgang zustrebe verlassen auch die letzten Gläubigen nach dem Abendgebet das Gotteshaus. In Xinjiang interessiert sich eben keiner für die von Peking verordnete Zeit, hier scheint Allah schon vor langem die Zeit angehalten zu haben – und auch Mao vermochte es nicht sie zu beschleunigen.
Korla und Kuqa…
…sind heute auch keine kleinen Oasenstädte mehr. Für die Entfernung von 600 km, für die Sven Hedin noch Monate auf unwegsamen Pfaden benötigte, brauche ich 12 Stunden auf einer gut ausgebauten Straße. Ich durchquere großartige Landschaften, gewaltige Felsmassive, lange Strecken arider Halbwüste und immer wieder Flächen mit fruchtbarem Grün. Allenthalben sieht man merkwürdige rechteckige Häuschen mit einer sonderbaren Bauweise aus Lehmziegeln, die sich als Trockenhäuser für Obst wie Weintrauben und Aprikosen entpuppen.
Der Dumont Kunstreiseführer aus dem Jahr 2001 beschreibt Kuqa wie folgt…“heute ein ruhiges, orientalisch anmutendes Städtchen, zählte es einst zu den wichtigsten Kulturzentren Zentralasiens“. Als ich am Abend müde in Kuqa eintreffe, erweist sich dieses ruhige, orientalisch anmutende Städtchen als Großstadt mit mehr als 500.000 Einwohnern, einer seelenlosen Reißbrett-Architektur mit weitläufigen Straßen im Schachbrettmuster und Wohnkasernen in Plattenbauweise. So verschieden können die Sichtweisen sein !
Am nächsten Morgen breche ich früh auf, um den Sonnenaufgang in den Ruinen der Klosterstadt Subashi zu erleben. Doch von der Sonne ist an diesem Morgen keine Spur. Der Wind hat aus der nahen Taklamakan Wüste soviel Staub aufgewirbelt, dass die Sonne sich nicht gegen diesen Schleier durchzusetzen vermag. Die Beleuchtung ist gespenstisch und verleiht der Szenerie eine Mysthik, die gut zu der buddhistischen Anlage aus dem 3. Jahrhundert passt. Für einige Stunden tauche ich ein in eine Stille, die es im geschäftigen China sonst selten gibt. Ich bin der einzige Besucher und wander durch die riesige Anlage, deren Hälften der trockengefallene Kuqa-Fluß teilt.
Danach mache ich auf zu den Buddha-Grotten von Kizil, – doch leider auch hier: elektronische Drehkreuze, Fotografierverbot und zerstörte Wand- und Deckenfresken. Figürliche Darstellungen hatten bereits die muslimischen Eroberern zerstört. Viele Statuen und Fresken wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von europäischen Archäologen aus Decken und Wänden gesägt und gestemmt um sie vor dem barbarischen Verfall durch die „unkultivierten Chinesen“ zu retten. So haben viele dieser Kunstwerke ihren Weg in die Museen nach Europa gefunden, viele davon auch in das Orientmuseum in Berlin-Dahlem, wo sie letztendlich im barbarischsten aller Kriege unwiederbringlich zerstört wurden.
Trotzdem gibt es hier in einzelnen Höhlen vieles was erhaltenswert und restaurierungswürdig ist, aber die chinesische Führung hat leider kein Interesse an religiösen Pilgerstätten.
Aksu
Am Abend erreiche ich Aksu, auch so eine kleine Oasenstadt mit über 600.000 Einwohnern am Rande der Taklamakan. Ich weiß, dass der neue Taklamakan-Highway der Wüste den Schrecken genommen hat und heute die Verbindung zwischen der Nordroute und der Südroute der Seidenstraße ist.
Taklamakan – Ort ohne Wiederkehr
Die Taklamakan ist Teil des Tarim-Beckens und mit über 300.000 km² die zweitgrößte Sandwüste der Erde. Der Tarim-Fluss, den Sven Hedin noch mit dem Boot befahren konnte, ist zwischenzeitlich ausgetrocknet. Um den Schauer zu erhöhen, wurden Wüsten häufig mit Beinamen des Schreckens versehen, so übersetzte man Taklamakan lange Zeit als „Ort ohne Wiederkehr“. Neueste Sprachforschung hat jedoch herausgefunden, dass „Takli“ im türkischen Pappeln bedeutet und „kand“ im persischen soviel wie Land bedeutet. Die Taklamakan ist also das „Land der Pappeln“, die historischen Quellen zufolge das Ufer des Tarim-Flusses säumten.
Links und rechts des Highways hat man großflächig genügsame Wüstengräser in Quadrate gepflanzt um der Bodenerosion und der Versandung die Stirn zu bieten. Gefürchtet ist der Kara Buran, ein schwarzer Sandsturm, der oft tage- und wochenlang wütet, enorme Sandmengen aufwirbelt und den Himmel verdunkelt. Und ich habe leider einen solchen Tag erwischt ! Von den bis zu 250 m hohen, goldgelben Sanddünen ist nichts zu sehen. Der Kontrast zwischen Wüste und Himmel verschwimmt zu einem einheitlichen Grau. Für die Nacht hat man mir ein Zeltcamp am Mount Mazatagh versprochen. Ich hoffe auf besseres Wetter für den folgenden Tag. Winnie fragt besorgt nach meiner Camping-Erfahrung, doch ich beruhige sie. No Problem ! Nachdem die Frage mehrfach mit besorgter Miene wiederholt wird und ein reger SMS-Verkehr einsetzt (Merke: Mobiltelefone funktionieren auch in der Taklamakan), scheint mir, dass hier etwas nicht stimmt. Wir nähern uns mehr und mehr Khoten, dem Tagesziel des nächsten Tages. Irgendwann rückt Winnie mit der Sprache raus. Die Zelte fahren wir im Bus spazieren und ich möge entscheiden, wo wir diese aufbauen. Aber zelten an der Autobahn ist nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Nach langer Diskussion entscheiden wir uns schweren Herzens zur Weiterfahrt nach Khoten, das wir am späten Abend erreichen. Der Traum Taklamakan ist geplatzt !
Als es dunkel wird, stehe ich am Fenster eines Hotels und liege nicht im Schlafsack im Wüstensand. Ich blicke auf die Glitzerlichter einer Großstadt und sehe nicht die Sterne am Firmament des Wüstenhimmels.
Doch wie sagt Laotse:
„Lass den Zorn, die stürmische Erregung. Alles Ungestüm hat keine Dauer; Keine Stunde währt ein Hagelschauer einen Tag des Wirbelwinds Bewegung ! Rasch verglüht des Blitzes Feuerklinge – und dies sind des Himmels große Mächte. Stille ziemt dem kleineren Geschlechte, und von selber ordnen sich die Dinge“.
Khoten
Ab Khoten geraten die Dinge wieder ins Lot. Khoten ist zwar auch eine gesichtslose Großstadt, hat sich aber in einigen Randbezirken einen Charme erhalten, der an die alte Seidenstraße erinnert.
Es sind überwiegend Uiguren die hier leben. Hier gibt es noch kleine, lokale Märkte mit skurilen Typen: der Bäcker, der am Tonnenofen Brot bäckt, den zahnlosen Eselstreiber, der für einen Yuan die Marktbesucher trockenen Fußes über ein Rinnsal bringt, das sich am Rande des Markplatzes gebildet hat, und die vielen Betreiber von Imbissständen, die Reissuppe und gebratenes Gemüse zum Frühstück reichen.
Khoten war nicht nur Handelsstation auf der südlichen Seidenstraße, auch heute gibt es hier noch viele kleine Seidenspinnereien. Da packt die ganze Familie mit an. Die Großmutter sitzt an einem Becken mit kochendem Wasser und kocht die Kokons ab, Mutter sitzt am Spinnrad. Das Färben ist Männersache und wenn die Fäden dann zu Strängen zusammengebunden, sind die kleinen Finger der Jugend gefragt. Am Webstuhl entsteht der Stoff; – Atlasseide bester Qualität. Farben und Muster sind bunt und aus alter Zeit überliefert. Sicher wird der Hofschneider den Damen des Hofes in der Tang-Dynastie auch schon Roben aus diesem edlen Zwirn auf den Leib gemessen haben.
Khoten ist der Handelsplatz auf der Seidenstrasse, an welchem sich die Luxusgüter Jade und Seide treffen. Bereits weit vor der Stadt wühlen im trockenen Flussbett des Khoten-Flußes hunderte von Frauen und Männern in Pfützen und Lachen nach dem edlen Schmuckstein, dem die Chinesen seit Jahrtausenden heilende Wirkung beimessen. Weit mehr als die grüne Jade wird die weiße oder gelbe Jade geschätzt. Im Khoten-Fluss ist die Ausbeute gering, weit mehr Erfolg dürfen sich die Schürfer am Yurungkax dem „Fluß der weißen Jade“! erwarten. Hierher spülen die Schmelzwässer aus den Bergen des nahen Kun-Lun-Gebirge das begehrte Mineral. Mit Hacke, Schaufel, Pumpen und Wasserstrahl versucht man ans Tageslicht zu fördern, was danach entweder auf der Jade-Straße des großen Marktes in der Innenstadt landet, während lupenreine Stücke ohne Fremdmineraleinschlüsse in einer der vielen unscheinbaren Jadeschleifereien in einem Hinterhof zu wahren Kunstwerken geschliffen werden. Zu einer solchen Hinterhofwerkstatt gehört ein riesiger Verkaufsraum. Eigentlich hatte ich mir einen kleinen Jade-Drachen in den Kopf gesetzt; die schier endlosen, blankgeputzten Vitrinen, hinter denen mindestens 2 Verkäuferinnen thronen, sind jedoch vollgestopft mit Anhängern, Broschen und Armreifen in Massen. Erstaunlich ist das Preisgefüge. Schnäppchenpreise findet man hier nicht, aber die Handelsspannen sind offensichtlich so groß, dass man auch mit einem 1/3 des Betrages zufrieden ist, der ursprünglich das Preisschild zierte.
Auf der Jade-Strasse werden „Steine“ gehandelt. Jade ist nicht darunter, ab und an vielleicht ein Serpentin, aber auch echte Wacker aus den Flussbetten, kugelrund geschliffen. Zeugen der letzten Eiszeit liegen sie jetzt, mit Öl auf Hochglanz poliert, im gleisenden Mittagslicht. Mir fällt unwillkürlich ein Satz aus einem Gedicht von Uhland ein: …viel Steine gab’s und wenig Brot ! Das ist auf der Jade-Straße nicht der Fall. Hier reihen sich die Garküchen aneinander und da Freitag ist, strömen die Männer zur Mittagszeit aus der Moschee und haben Hunger. Ich stehe gestikulierend mit einigen Uiguren an einem „uigurischen Wienerwald“ bei einem Jungen, der das aufgespießte Hühnerfleisch mit einer quietschgelben Soße einpinselt, weil ich das fotografieren will. Und bei solchen Gelegenheiten springt er über, der zwischenmenschliche Funke, der allen Beteiligten ein Lachen entlockt.
Chinesisches Essen ist immer ein kleines Abenteuer. Der Ausdruck „Menü Surprise“ gewinnt hier eine besondere Bedeutung. Ein Abendmahl findet immer an einem großen runden Tisch statt auf dem eine Drehscheibe steht, auf den die Speisen aufgetragen werden. Unorthodox für Europäer erscheint die Speisenfolge. Zuerst kommt das Fleisch, dann gebratenes Gemüse, alles sehr lecker, dann kommt irgendwann die Suppe und am Ende der Reis. Häufig wird im Séparée gespeist, wenn man allerdings in einem Restaurant landet, in dem eine Firmen- oder Familienfeier stattfindet, dann kommt europäische Stimmgewalt nicht mehr gegen den Geräuschpegel an, dann heißt es die Flucht antreten. Nach einer solchen Gelegenheit, bei der das Essen nicht wirklich lecker war, murrt mein Freund Rüdiger: „ich hab‘ noch Hunger wie ein Wolf !“ Nur einen Steinwurf von unserem Hotel gibt es so eine Art chinesischen McDonald. Dort bestellt sich Rüdiger einen Chicken-Burger und wird dabei sprachlich auf der Suche nach den richtigen Worten durch seine vier Begleiter unterstützt. Die Bedienung bricht in schallendes Gelächter aus. Einen Burger wollt Ihr, für 5 Personen ? gestikuliert sie. Und da ist er wieder dieser Funke !
Die Tage, vor allem aber die Abende von Khoten, gehören zu einer jener Augenblicke auf meinen Reisen, die mir für immer unvergesslich bleiben. Wenige Straßenzüge von unserem Hotel entfernt gibt es einen riesengroßen Platz, mit eine hohen Säule, von der Mao-tse-Tung auf sein Volk herabblickt. Am Rande des Platzes laufen auf einer Großbildleinwand Live-Bilder von den Rettungseinsätzen beim schweren Erdbeben in der Provinz Sichuan. Doch niemand scheint das zur interessieren. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf eine große Bühne, zu Füssen Maos auf der allabendlich Veranstaltungen zur Feier der Olympischen Spiele in Peking stattfinden. Unzählige Tanzgruppen in bunter Tracht, ein Militärchor, der Gesangverein der Landfrauen, oder die TaiChi-Gruppe der Krankenschwestern aus Khoten, treten auf. Am Rande des Platzes gibt es einen Vergnügungspark für Kinder. Viele der Karussells erinnern mich an meine Jugend. Es muss nicht immer Technik, Nervenkitzel und Geschwindigkeit sein; manchmal ist auch eine Bimmelbahn mit Wägelchen, die von musizierenden Blechaffen gesteuert werden, für die Kleinen das Größte. Ich bin umringt von „Zwergen“ die zu mir, der „großen Langnase“, aufschauen und der Spaß, den sie haben, ist auch meiner. Ich spendiere eine Runde Karussell für alle und erinnere mich an einen Satz des amerikanischen Medienkritikers Neil Postman
„Kinder sind lebende Botschaften, die wir einer Zeit übermitteln, an der wir selbst nicht mehr teilhaben werden“
In der Zwischenzeit hat sich der Platz gefüllt und die Stimmung steigt. Viel größer als die Attraktionen auf der Bühne, ist das Erstaunen, das wir wenigen Europäer bei den Besuchern hervorrufen. Jeder kratzt seine wenigen englischen Sprachkenntnisse hervor und schnell kommt gegenseitige Sympathie auf. Ich habe mich hinter die Bühne geschmuggelt und hier gelingen mir begeisternde Portraits und Gruppenbilder. Eine Mädchentanzgruppe, im Alter von vielleicht 8 – 10 Jahren, ist mein persönlicher Fanclub. Die kleinen Prinzessinnen – von ihren stolzen Müttern herausgeputzt und bewacht – winken mir von der Bühne zu und bestehen darauf, dass ich bleibe bis Ihre Darbietung beendet ist. Unvergessliche Momente !
Kashgar
Am nächsten Tag mache ich mich auf den langen Weg nach Kashgar. Die Fahrt führt über Yarkand nach Yengisar, unweit von Kashgar. In Yengisar beschäftigt sich jedermann mit Messern, dem Stolz jedes Uiguren. Handgemachte Kleinode der Schmiedekunst, sozusagen Chinas Solingen. Wir schlendern ein wenig durch die Läden. Die Auslagen biegen sich unter der Last der Klingen. Wer kauft hier ? Touristen auf jeden Fall nicht, denn der Kauf müsste per Post nach Europa geschickt werden. Das ist typisch chinesisch, wer glaubt schon allen Ernstes, dass ein Tourist hier ein Messer ersteht und sich damit auf einen lokalen KP-Funktionär stürzt ?
Es ist Samstagabend als ich in Kashgar ankomme. Mein Hotel, das den schönen Namen „Friendship-Building“ trägt, war Anfang des 19. Jahrhunderts das britische Konsulat in Kashgar, ein Schauplatz des „Großen Spiels“ zwischen Briten und Russen. Mitte des 19. Jahrhunderts ging es mit der einstmals so mächtigen Quing-Dynastie steil bergab. Das Zarenreich, das sich gerade Sibirien einverleibt hatte und das britische Empire, das den indischen Subkontinent beherrschte, versuchten gleichsam das vorhandene Machtvakuum zu füllen und Zentralasien unter Ihren Einfluss zu bringen. Wie immer ging es dabei ums Geld. Beide Länder strebten nach Absatzmärkten für die Güter, die die beginnende industrielle Revolution auf den Markt warf. Warum regen wir uns heute so auf, wenn die Warenströme jetzt in die andere Richtung fließen und die Chinesen uns mit Massenartikeln bombardieren. Hierbei haben wir zumeist nur billigen Plastikramsch und kopierte Markenartikel im Blick. Das China zwischenzeitlich Weltmarktführer bei Elektronikkomponenten und Computerchips ist, übersehen wir dabei sehr schnell.
Apropos Markt !…Der Sonntagsmarkt von Kashgar ist weltberühmt und riesig. Im Süden der Stadt liegt der Viehmarkt. Einige tausend Rindviecher, Kamele, Ziegen und Dickschwanzschafe werden hier feilgeboten. Hier gibt es alles: vom neuen Eselskarren, Achsen, Räder, Zaumzeug, Seile, Taue bis zu Viehglocken und man sieht manch stolzen Besitzer mit einer neuen Kuh von dannen ziehen. Hier pulsiert das Leben. Am Rande des Marktes gibt es die unvermeidlichen Garküchen und sicher einmalig, die Straßenfriseure. Für 5 Yuan gibt es einen Haarschnitt, oder besser gesagt einen Kahlschlag an dessen Ende der Kamm eingemottet werden kann und ein Schwamm zur Pflege der „Frisur“ – oder soll ich besser sagen „Rasur“ ausreicht. Am Ende wird der Bart noch durchgekämmt – einen schönen Menschen kann eben nichts entstellen ! Das Angebot, wenn auch preiswert, wird trotzdem nur von älteren Uiguren angenommen.
Der große Basar in der Innenstadt ist Sonntags proppenvoll. Ein riesiges Warenangebot, vor allem Stoffe, zart und bunt mit Pailletten verziert, Schuhe in Massen, kunstvoll aufgetürmte Trockenobst-Sortimente und unzählige Garküchen. Gegessen wird in China ununterbrochen, es ist schon spannend den Nudelmachern zuzusehen, wie sie Teigstränge durch die Luft wirbeln um endlose Spaghetti daraus zu ziehen oder mit flinken Fingern Teigtaschen zupfen und füllen. An der Geschichte, dass Marco Polo; – so er denn überhaupt bis China gekommen ist – die Nudeln entdeckt und mit nach Italien gebracht hat, scheint mir doch ein Körnchen Wahrheit zu sein.
Eine homogene Altstadt, wie wir diese aus Beschreibungen und Abbildungen in Reiseführern erwartet hatten, hat Kaschgar nicht mehr zu bieten. Trotzdem ist Kaschgar bei weitem nicht so steril wie andere „Oasenstädte“, durch die ich gekommen bin. Hier weht ein wenig der Atem von 1001 Nacht. Ganze Straßenzüge werden von Handwerkergilden bevölkert, die alle die gleichen Produkte anbieten, ganz gleich ob Schmiede, Drechsler, Schneider, Hutmacher oder Instrumentenbauer, hier überlebt nur, wer sich auf’s Handeln und Feilschen versteht. Am Ende des Tages bin ich rechtschaffen müde. Es ist zwar schon 9:00 Uhr abends, aber dank „Peking-Zeit“ noch glockenhell. Das chinesische Essen und vor allem das warme Bier dazu, vermögen es nicht meine Lebensgeister zu wecken. So sind alle früh verschwunden. Am kommenden Morgen wollen wir zum Sonnenaufgang an der Id-Kah-Moschee sein.
Als der nächste Tag anbricht, reibt sich der Aufseher an der Moschee schlaftrunken die Augen, wer ihn wohl schon so früh stört. Die Id-Kah-Moschee ist nur eine von 90 Moscheen in Kashgar, sie bietet Raum für 8.000 Gläubige, und ist das größte Gotteshaus der Stadt. Wer denkt, dass im kommunistischen China Religion eine Nebensache ist, liegt falsch. Viele Menschen sind festverwurzelt in Ihrem Glauben. Viele Gläubige sind zu dieser frühen Morgenstunde auf dem Weg zum Gebet. Ob Religion nun Opium für das Volk ist, wie Lenin behauptete oder nicht, sicher ist, das islamische Traditionen sich hier seit Jahrhunderten als gesellschaftliche Klammer der Menschen halten, während der Kommunismus nach einem knappen Jahrhundert in einen staatlich gelenkten Raubtier-Kapitalismus abdriftet, in dem Wenige viel und Viele gar nichts besitzen.
Die Id-kah-Moschee mit ihrem gelben Portal und dem schweren messingbeschlagenen Tor, das im Licht der Sonne mit dem tiefblauen Himmel um die Wette strahlt und so aussieht, als sei sie ein Produkt chinesischer Fertigbaukunst, wurde schon aus im 15. Jahrhundert erbaut. Ein schöner Abschluss für Kaschgar und unser Abschied von China.
Vor dem Abschied kommt der Schmerz. Nicht körperlich sondern seelisch. Das Abenteuer China endet so wie es begonnen hat, chinesisch – unbegreiflich. Nur 160 Kilometer sind es von Kashgar bis zur kirgisischen Grenze, doch die Fahrt und die Formalitäten kosten fast einen ganzen Tag. Von dem 1300 m hoch gelegenen Kashgar steigt die Straße langsam an. Nach ungefähr 60 Kilometern erreicht man die Zollstation. Eine riesige Anlage mit 8 Abfertigungskorridoren. Es heißt alles Gepäck aus dem Bus ausladen und per Pedes zum Zollgebäude schleppen, wo es durchleuchtet wird. Danach heißt es Geduld aufbringen. In einer langen Schlange Ausreisewilliger schiebt man sein Gepäck vorwärts. Für Ablenkung sorgt nur eine hübsche Zöllnerin, die interessiert den Pass durchblättert, was sich bei der Beamtin am Ausreiseschalter wiederholt, aber wenigstens hat die noch ein Display vor sich, auf dem man den Service der Ausreisekontrolle bewerten kann. Wer riskiert hier schon den Knopf „poor service“ zu drücken ? Hinter der Zollstation steht dann unser alter Bus. Das Gepäck wird wieder eingeladen, doch wir fahren nicht ab. Die hübsche Zöllnerin betritt die Szene und fragt: „Haben Sie überhaupt ein Visum für Kirgistan ?“ Ich zücke unser Sammelvisum, doch die kyrillschen Buchstaben und die vielen Pass- und Visakopien sind nicht hilfreich sondern verwirrend. Also zurück ins Zollgebäude und nochmalige Überprüfung der Papiere. Schließlich einigt man sich darauf, dass es wohl seine Richtigkeit haben wird und lässt uns ziehen. Aber wir haben uns zu früh gefreut. Auf den verbleibenden 120 Kilometern werden die Dokumente noch fünfmal überprüft, so als habe man kein Verständnis dafür, das wir dem Paradies aller Werktätigen entfliehen wollen.
Hinter der Zollstation endet auch die Teerstraße, gleichsam als ob hier das Ende der Welt sei. Die Schotterpiste, an welche wir uns ab jetzt gewöhnen müssen, windet sich bis in atemraubende 3.752 m hinauf, bis wir auf der Anhöhe des Torugart-Passes stehen und hier endet nur China aber nicht die Welt !. Im Gegenteil, hier stauen sich mindestens 100 LKW’s auf dem Rückweg nach China. Diese halsbrecherische Gebirgsstrasse ist ein wichtiger Handelspfad; – alte Seidenstraße eben. Was die Chinesen nach Kirgistan gebracht haben, weiß ich nicht, jetzt auf dem Rückweg haben sie bis unters Dach Eisenschrott geladen. Futter für die Hochöfen von Benxi und Anhui.
Der Blick vom Torugart-Pass hinein in die kirgisische Hochebene bleibt uns verwehrt. Die Wolken hängen tief am Himmel und ein leichter Schneeregen hat eingesetzt. Gestern gut 35° C in Kashgar und hier nur knapp über dem Gefrierpunkt; Kulturschock und Temperaturschock zugleich. Die Wollmütze tief über die Ohren und den Anorak bis zum Kinn hinauf gezogen, mit einem riesigen Schild bewaffnet erwartet uns Dinara unsere kirgisischen Reisebegleiterin. Wladimir unser Fahrer, hat zwischenzeitlich das ganze Gepäck verstaut, und wir wollen los. STOJ !!! Ein Soldat der kirgisischen Grenztruppen weist uns zurück. Schroff und barsch wie in sowjetischen Zeiten ist sein Ton. Kein Lächeln kommt den Grenzern über die Lippen. Dafür geht die Einreiseprozedur aber zügig von statten.
Tash Rabat
Das Wetter will sich an diesem Tag nicht beruhigen. Es regnet in Strömen und die Piste nach Tash Rabat, die ohnehin von Schlaglöchern übersät ist, wird immer rutschiger. Irgendwo am Rande des Nichts machen wir Lunch und mischen den Inhalt der chinesischen und kirgisischen Lunchpakete. Am späten Nachmittag erreichen wir das Hochtal von Tash Rabat. Hier in 3.500 m Höhe ist die Luft dünn, und es ist empfindlich kalt. Auf der Talsohle stehen, wie kleine weiße Champignons, 6 Jurten als Nachtlager. Die Karawanserei von Tash Rabat ist eine einfache Relaisstation aus dem 15. Jahrhundert.
Wir beziehen unsere Jurten, der Ofen bullert und verströmt wohlige Wärme, obwohl sich die Filzbahnen der Außenhaut mit Feuchtigkeit vollgesogen haben. Nachdem wir uns eingerichtet haben, spähen wir durch die Tür und sehen, dass der Regen aufgehört hat und sich sogar der eine oder andere Sonnenstrahl durch die Wolken drückt. Man braucht nicht viel Phantasie um sich vorzustellen, wie in alter Zeit die Karawanen, gerade dem Gluthauch der Taklamakan entronnen, den Talkessel hinaufzogen, ihre Kamele in den Stallungen der Karawanserei unterbrachten und zur Rast einkehrten.
Es ertönt der Ruf zum Abendessen und in der großen Gemeinschafts-Jurte löffeln Neuseeländer, Kanadier und Deutsche gemeinsam eine heiße Suppe, die die Lebensgeister wieder weckt. Als Hauptgang gibt es Lagman, einen leckeren Eintopf mit handgemachten Nudeln und Lammfleisch und natürlich den unvermeidlichen Wodka, der eigentlich gar kein Schnaps sondern Grundnahrungsmittel ist. Zufrieden und satt ziehen sich alle früh ins Bett zurück, doch es ist eine unruhige Nacht. Die Kälte und die dünne Luft macht den meisten zu schaffen.
Bis zum nächsten Morgen hat der Regen den Dreck aus der Luft gewaschen. Die Luft ist klar und so kalt, dass sich beim ausatmen kleine Wölkchen bilden. Erst jetzt sieht man in welch grandioser Landschaft wir angekommen sind ! Am Ende des Tales erhebt sich ein schneebedeckter Fünftausender; letzter Ausläufer des Tien-Shan-Gebirges. Ich erklettere den Gegenhang des Taleinschnittes bis in halbe Höhe und genieße den Ausblick auf den Kuppelbau der alten Karawanserei deren Steine vom Regen der Nacht und dem Tau des frühen Morgens im Sonnenlicht glänzen. Welcher Kontrast den die Stille an diesem Ort zum immer lärmenden China bildet. Wir nehmen uns Zeit für die Szenerie und stoppen auf unserem Weg talwärts bei Nomaden, die hier zotteligen Yaks weiden und an einem Pferch Schafe scheren.
Son-Kul See
An diesem Tag wollen wir zum Son-Kul See. Obwohl nur 260 Kilometer entfernt, sind das auf hochalpinen Pisten fast 8 Stunden Fahrt. Gegen Mittag erreichen wir Naryn, Bezirkshauptstadt im Süden Kirigistans mit 45.000 Einwohnern und vielen flachen Zweckbauten. Tristesse pur. In einem Restaurant, das eher einem Wartesaal eines Provinzbahnhofs gleicht, nehmen wir einen nahrhaften Lunch ein. Das wird sich später noch als nützlich erweisen. Viele Gäste sitzen für einen Wochentag im Gastraum. Essen ist hier preiswert. Ein mehrgängiges Menü nach unserem Geld 1,50 €.
Hinter Naryn geht es in die Berge. Wladimir fragt jeden, der uns entgegenkommt, ob der Weg frei ist. Irgendwie schießt mir der Gedanke an den Xavier Naidoo Song „Dieser Weg wird kein leichter sein !“ durch den Kopf, denn der Weg windet sich in endlosen engen Serpentinen hinauf bis zur Passhöhe von Tua Ashu in über 3.500 m Höhe. Rechts geht es einige hundert Meter in die Tiefe. Nach ¾ des Anstieges, halten wir an. Der Ausblick in die scharf eingeschnittenen Täler, auf die von Tannen und Fichten bewaldeten Hänge, über denen sich ein weiter Himmel spannt aus dem haushohe Wolkentürme schießen, ist überwältigend. Hinter dem Pass geht es sanft bergab, hinunter auf die in 3000 Meter gelegene Hochebene des Son-Kul Sees. Hier treffen wir die ersten Nomaden, die Ihre Ziegen, Schafe und Pferde auf die Sommerweiden am See treiben. Tschok-Tschok schallt es durch die klare Luft, wenn sie Ihre Pferde antreiben.
Bis zu unserem Jurten-Camp sind es noch gut 60 Kilometer. Die Fahrt vergeht wie im Flug. Hinter jeder Kurve taucht ein neuer schneebedeckter Gipfel auf. Unversehens tritt Wladimir voll auf die Bremse. Nach dem ersten Schock sehe ich die Bescherung. Dort wo gestern noch die Fahrbahn war, hat sich ein Schmelzwasserbach seinen Weg gebahnt und in die Straße einen mehrere Meter breiten Graben gerissen. No Problem ! meint Wladimir und will sich eine Furt durch den Bach suchen, der gleich hinter der Engstelle breit und flach zu werden scheint. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, und er fährt sich im Bachbett fest.
Alles Hin und Her nutzt nichts. Da heißt es Schuhe ausziehen, Hosenbeine hochkrempeln, hinein in das eiskalte Wasser und schieben. Alle Bemühungen sind erfolglos, wir wühlen uns immer tiefer im Bachbett fest. Eine gute Stunde mühen wir uns und nehmen nicht wahr, dass neues Unheil droht. Dunkle, gewitterschwere Wolken ziehen am Horizont auf. Zwischenzeitlich haben wir Zuschauer, ein Hirte zu Pferd sieht uns kopfschüttelnd zu und macht auf dem Absatz kehrt um Hilfe zu holen. Als die ersten Helfer kommen, beginnt es in Strömen zu regnen. Man versucht alles: Räder mit Holz unterbauen, schieben, den Wagen anheben, alles umsonst. Nach einer weiteren Stunde ist aus dem strömenden Regen ein Hagelschauer geworden und Blitze schlagen bedenklich nah ein; – das Wasser steigt und hat fast schon die Höhe des Trittbrettes an unserem Kleinbus erreicht. Wladimir hockt unermüdlich in dem eiskalten Wasser und versucht alles. Seine Füße müssen schon ganz taub sein. Wir machen noch einen Versuch. Irgend jemand hinter mir schreit, „mach’ endlich die Tür zu, dann finde ich besser Halt !“ Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und ohne mich umzudrehen, werfe ich die Tür mit Schwung zu; – nur hat da einer unserer kirgisischen Helfer die Finger dazwischen. Jetzt haben wir auch noch Verletzte und nichts zum verarzten. Außer einer Flasche Wodka habe ich nichts dabei, und die gebe ich ihm zum Desinfizieren – äußerlich wie innerlich. Ein schwaches Lächeln kommt über seine Lippen, – dass er Tachawai heißt, soll ich erst später erfahren. In einem letzten Kraftakt kommen wir frei, und unsere Retter zu Pferde, weisen uns den Weg zu unserem Camp.
Der Son-Kul See ist nach dem Titicaca See der höchstgelegene Gebirgssee der Erde. Jetzt, – Anfang Juni, gibt es nachts noch immer Bodenfrost. Als wir durchnässt und kaputt in unserem Jurten-Lager ankommen, ist von Bergen und schöner Landschaft nichts mehr zu sehen. Die Küchenmannschaft des Camps gibt sich große Mühe die gedrückte Stimmung mit einem leckeren Abendessen aufzuheitern und das gelingt auch. Gesättigt und müde kriechen wir in die Schlafsäcke und träumen dem nächsten Tag entgegen. Als Traum muß den nächsten Tag unbedingt bezeichnen. Es ist ein Tag wie kein anderer. Während der Nacht hat es geschneit, und die Berge hinter unserem Lager tragen alle eine Neuschnee-Auflage und leuchten in der frühen Morgensonne.
In der Nachbarschaft gibt es Neuankömmlinge, eine Familie aus Naryn bringt Ihre Pferde auf die Sommerweide und baut ihre Jurte auf. Das die ersten Gäste in diesem Jahr angekommen sind, scheint sich schnell herumgesprochen zu haben. Zuerst kommt ein Wildhüter um uns zu begrüßen. Er trägt den weißen Kalpak, jenen auffälligen kirgisischen Filzhut und hat eine Fahne, an der man merkt, wie er sich über die kalte Nacht hinweggeholfen hat.
Vom Seeufer her nähern sich Reiter. Als sie näher kommen, erkenne ich Tachawai. Trotz des gebrochenen Fingers sitzt er schon wieder im Sattel. Sohn und Schwager begleiten ihn. Er lädt uns in sein Lager ein, eine Einladung, die wir nicht ausschlagen können. Auf dem Weg dorthin stoppt uns wieder das Problem vom Vortag. Wir gehen zu Fuß weiter, finden aber keinen Übergang ans andere Ufer. Je weiter man den Bachlauf aufwärts folgt desto häufiger sind seine Ufer von Harschschnee gesäumt. Unsere neuen Freunde kommen uns zu Pferde entgegen und auf dem Pferderücken meistern wir dann auch den Weg ans andere Ufer. Überhaupt dreht sich hier alles um Pferde. Kirgisen scheinen, wenn schon nicht im Sattel so doch für den Sattel geboren zu sein. Als wir bei Tachawai’s Familie eintreffen, ist seine Frau Asema beim Melken der Stuten. Die Stutenmilch wird vergoren zu Kumys, ein alkoholisches Getränk; – für unsere Geschmacksnerven aber sehr gewöhnungsbedürftig. Als wir in Tachawais Jurte sitzen wird Tee aus einem Samowar gereicht, dazu gibt es leckeres Brot, Rahm und Erdbeermarmelade. Tachawai erzählt: Eigentlich ist er gar kein Bauer, er ist Lehrer in Naryn. Auch wenn er Kirgistan nie verlassen hat, verfügt er über ein sehr differenziertes Weltbild und doch sagt er, im Sommer, wenn die 3-monatigen Schulferien beginnen, kommen meine Nomaden-Gene zum Vorschein. Dann zieht er mit seiner Frau und den Söhnen Temir und Tschingis ins Hochland an den Sonkul-See. Gemeinsam mit seinem Schwager und dessen Familie bringen Sie das Vieh des Clans auf die Hochweiden. Es sei ihm trotz des gebrochenen Fingers eine Freude und Ehre uns in seinem Heim bewirten zu dürfen.
Am späten Nachmittag lädt uns Tachawai zu einem Kok-Boru ein. Übersetzt heißt Kok-Boru „Ziegen-Ziehen“. Dieses Reiterspiel ist in ganz Zentralasien verbreitet und unter verschiedenen Namen bekannt.
Zunächst muss aber leider eine Ziege dran glauben, – nichts für schwache Nerven. Aber das Tier stirbt nicht vergebens, es ist der Hauptgewinn und wird nach dem Spiel beim Siegesmahl verzehrt. Kopf und Läufe werden vom Kadaver abgetrennt und dann geht es los. Zwei Mannschaften werden gebildet, die versuchen einander den „Spielball“ abzujagen und in ein „Tor“ zu befördern. Bei diesem spielerischen Wettkampf spielt Alt gegen Jung. Die Steppkes schaffen es gerade in die Steigbügel und haben erhebliche Mühe aus dem Sattel heraus die Ziege vom Boden aufzuheben. Hat man sie erst einmal in seinen Besitz gebracht, heißt es verteidigen was das Zeug hält. Im gestreckten Galopp geht es über das Spielfeld, in halsbrecherischem Tempo. So lernen die Kleinen reiten in Vollendung. Man versucht sich gegenseitig abzudrängen, zerrt und reisst am Fell der Ziege; die Peitsche zwischen die Zähne geklemmt, eine Hand am Sattelhorn, lässt man die Zügel schießen. Am Ende geht das Spiel 5:2 aus. Für wen ? Vollkommen egal, wichtig war das Spiel. Lachend stehen wir zwischen den Spielern und gestikulieren. Völkerverständigung funktioniert eben auch ohne Sprachkenntnisse.
Wir wandern zurück zu unserem Jurten-Lager. Am Wegesrand blüht Edelweiß. Jeder ist ein wenig in sich gekehrt; – so schön, friedlich und still ist es hier oben am Son-Kul See.
Am kommenden Morgen brechen wir auf und fahren stundenlang durch hochalpine Landschaft. Murmeltiere stoßen Ihren Warnpfiff aus und verschwinden schnell in ihrem Bau. Schneebedeckte Gipfel spiegeln sich im klaren Wasser von kleinen Bergseen und giftiger Riesen-Bärenklau säumt den Wegesrand. Am Dolon-Paß haben sich aus einem Lawinenabgang des Winters mannshohe Schneefelder gehalten. Von nun an geht’s bergab.
Gegen Mittag kommen wir nach Kochkor. In der kleinen Stadt gibt es eine Filzmanufaktur. Eine charmante junge Frau führt uns in die Geheimnisse des „Filzens“ ein. Die rohe Schafwolle wird geklopft und gelockert, danach kommt das Färben und Walken. Immer wieder wird der Stoff mit heißem Wasser und Seifenlauge verfestigt. Nachdem die Filzbahnen komplett trocken sind, werden die Muster ausgeschnitten, abstrahierte Formen aus Pflanzen oder Tierwelt werden hier zu Kunstwerken wie Shyrdak oder Ala-Kiyiz.
Am Abend erreichen wir den Issy-Kul See, den größten See Kirgistans. Übersetzt heißt Issy-Kul der „warme See“; und tatsächlich gibt es so früh in der Saison bereits Badegäste in den Standhotels.
Am Südufer schwingen sich im Dunst die Gebirgsketten des Tien-Shan-Gebirges auf. Bei klarer Sicht muss das eine atemberaubende Kulisse sein. Das milde Seeklima begünstigt die Landwirtschaft. Vor allem Obstbauern gibt es hier. Auf den Basaren von Bishkek und Almaty im nahen Kasachstan werden die Birnen, Trauben, Melonen und Aprikosen vom Issy-Kul angeboten. Die Verkaufsstände entlang der Straße verkaufen neben Trockenfisch vor allem Honig. Mehr und mehr drängt der Tourismus in die Region. Früher, in Sowjetzeiten, weilten ergraute Parteibonzen in den Erholungsheimen rund um den See und schöpften Kraft für wichtige Aufgaben. Heute sind es mehr russische Pauschaltouristen, für die hier gebaut wird.
Unsere Reise neigt sich langsam dem Ende zu. Nur noch 250 km sind es bis nach Bishkek, der Hauptstadt Kirgistans. Bishkek ist eine grüne Gartenstadt, weitläufig mit breiten Boulevards und monumentaler, sowjetischer Architektur. Hier steht Lenin noch fest auf seinem Sockel; – weniger als Reminiszenz an den Kommunismus sondern als Erinnerung daran, dass die sowjetischen Zeiten den Fortschritt in ein ehemals rückständiges Kirgistan brachten. Über dem Präsidentenpalast weht eine Flagge, doch sie zeigt nicht mehr Hammer und Sichel sondern den Tjundjduk, das Dach einer kirgisischen Jurte, die von einer strahlenden Sonne umkränzt wird. Was nehme ich jetzt von dieser Reise mit? Viele Fotos, viele Eindrücke und Erfahrungen und ein Wort von Henri Matisse:
„Die Träume eines Menschen, der viel gereist ist, sind reicher als die eines Menschen, der niemals vereist war“.