Venedig – Im Spiegel der Zeiten !

…und anschauend bedachte er, dass zu Lande, auf dem Bahnhof in Venedig anlangen, einen Palast durch eine Hintertür betreten heiße, und dass man nicht anders, als wie nun er, als zu Schiffe, als über das hohe Meer die unwahrscheinlichste der Städte erreichen sollte. (Thomas Mann / Tod in Venedig)

Seit Thomas Mann im Jahr 1911 die Lagunenstadt besuchte hat sich vieles geändert. Man reist weder mit dem Zug noch zu Schiff nach Venedig. In seinem Sinn habe ich aber zumindest vom Flughafen, der den Namen des großen venezianischen Forschungsreisenden Marco Polo trägt, ein Boot der Alilaguna genommen und mich der Stadt genähert. Liebe auf den ersten Blick ist es nicht. Meine Gesichtszüge sind eingefroren, versteinert. Bei – 7° C und schneidendem feuchtkaltem Wind ist eine Bootsfahrt nicht wirklich ein Vergnügen. Der Himmel ist bedeckt. Bleischwer hängen die grauen Wolken am Himmel. Die Lagune beginnt zuzufrieren.

Was soll man noch über Venedig schreiben ? Ist nicht schon alles gesagt ? Es war Karl Valentin, der meinte: „Es ist schon alles gesagt, nur nicht von allen !“. Also unternehmen wir den Versuch, nehmen die Kamera in die Hand und durchstreifen eine dem Untergang trotzende Stadt, die so viel zu bieten hat.

Der Clan der Venezianer

Gibt es ihn denn, den typischen Venezianer? – Ja ! – aber er ist eine aussterbende Spezies. Der Zensus aus dem Jahre 2010 zählte 270.884 Einwohner. Doch nur rund ein Viertel davon leben im historischen Zentrum der Lagune, die sich auf mehr als 100 größere und kleinere Inseln erstreckt. Der überwiegende Teil ist aufs Festland gezogen. Das Leben in einer Stadt, die wie die Kulisse eines „Film noir“ wirkt, ist ihnen zu mühsam. Die beständige Hochwassergefahr, der Zahn der Zeit, der an den Grundmauern nagt, die langen Fußwege in der autofreien Stadt, aber vor allem die explodierenden Immobilienpreise, und der nie enden wollende Strom der Touristen, haben den Venezianern sozusagen den Zahn gezogen. Über 11 Millionen Besucher muss die Stadt jährlich verkraften oder soll man besser sagen ertragen ? Allein zum Carnevale drängen sich mehr als 1 Million „Narren“ durch die engen Gassen und spülen gut 40 Millionen € in die Kassen. Doch man darf sich nicht täuschen. Der durchschnittliche Tourist lässt weniger als 15,– € am Tag in der Stadt. Die meisten sind Tagestouristen, die in preiswerten Hotels auf dem Festland ihre Bleibe suchen. So darf es nicht verwundern, dass viele alteingesessene Venezianer auf uns etwas muffelig und abweisend wirken. Doch es gibt sie noch, die würdigen älteren Herren, die allabendlich bei einem Sprizz im Caffe Florian oder Caffe Lavena den Tag an sich vorbeiziehen lassen. Manche können ihre Abstammung fast 1000 Jahre zurückverfolgen. Aber das zählt nur in der kleinen Welt Venedigs und nicht in der Realität. Im wirklichen „globalisierten“ Leben muss man sich den Platz an der Bar mit lärmenden unkultivierten „Gästen“ teilen. Man zieht die Augenbraue etwas hoch, runzelt die Stirn und kehrt zu seinem Drink zurück.

Kunst oder Krempel ?

Der Traum Venedig im Winter zu erleben hat ein wenig etwas von einem Märchen. Es beginnt, wie alle Märchen beginnen: „Es war einmal“…. eine Stadt am Meer. Mächtig und reich und prächtig, schon in den dunkeln Tagen des Mittelalters. Viel des märchenhaften Glanzes hat die Stadt eingebüßt, und doch liegt über ihr ein Zauber, den man schwer erklären kann. Montesquieu beschreibt es im 18. Jahrhundert so: „Man kann alle Städte der Welt gesehen haben und doch überrascht sein, wenn man in Venedig ankommt.“ Manches hat ewigen Bestand, und so bin auch ich überrascht, als in Venedig ankomme. Es ist eine Mischung großartiger Architektur eines Andrea Palladio oder Vincenzo Scamozzi, und dem Genius der Kunst, die Maler wie Canaletto, Tizian oder Tintoretto hervorbrachte, oder aber der Musik des Antonio Vivaldi, deren Töne man förmlich zu hören glaubt wenn man durch die stilleren Ecken von San Polo oder San Marco wandert. Venedig, das sind die Glaskünstler von Murano, die Papiermacher und Maskenformer. Venedig, das sind aber auch die ungezählten Geschäfte für Fastnachtsmasken, „Glasboutiquen Made in China“, und afrikanische Straßenhändler, die gefälschte Louis Vuitton- und Gucci – Handtaschen vertickern. Es ist für Jeden etwas dabei. Und für mich, mit meiner Kamera ? Für mich wird es nicht die große Dokumentationsfotografie von Kirchen, Türmen und Brücken. Dazu ist die Stadt nach mehr als 1500 Jahren Besiedelungsgeschichte zu dicht bebaut; dazu gibt es zu viele Baustellen, Kräne und Schiffsverkehr. Venedig wird für mich eine „Spielerei“ mit Licht, mit Abstraktionen und vor allem mit kleinen Geschichten, die sich in Kanälen, Fensterscheiben und in den Gesichtern der Menschen spiegeln.

Ist Venedig ein Fisch ?

Das Büchlein von Tiziano Scarpa beginnt mit den Sätzen: „Venedig ist ein Fisch. Schau es dir auf einer Landkarte an. Es ähnelt einer riesigen Seezunge, die platt auf dem Grund liegt“. Aus der Vogelperspektive betrachtet, hat Venedig in der Tat die Form eines Fisches; vielleicht eher die eines Wales als die einer Seezunge. Eine fast biblische Metapher: hat der Wal nicht den Propheten Jona, sondern Venedig ausgespuckt? Gleich wie, Venedig verdankt seinen Aufstieg dem Meer. Die Stadtgründung datiert man auf das Jahr 421. Damals war Venedig ein Fischerdorf. Von der Fischerei leben heute in Venedig nur noch wenige, und vieles was auf dem Fischmarkt an der Fondamenta dell‘ Olio landet, hat schon einen weiten Weg hinter sich. Die Ölindustrie um Mestre und Marghera hat das Wasser der Lagune vergiftet. Trotzdem, Schwarzfischer und Commissario Brunettis Kollegen liefern sich in dunklen Nächten ein Katz- und Maus-Spiel um die „reine Vongole“ damit nicht am Ende doch etwas von den leicht verderblichen Köstlichkeiten in Töpfen oder auf Tellern landet. Gewinnstreben lag schon immer im Wesen der Venezianer. Der Ruf der Kaufleute von Venedig eilte diesen voraus, auch wenn der große Khan in Peking bis zur Reise von Marco Polo noch nichts von der „kleinen“ Stadt am Adriatischen Meer gehört haben dürfte. Zwischen dem Jahr 1000 und 1500 erlebte Venedig einen rasanten Aufschwung, wurde Handelsmetropole, See- und Weltmacht. Nicht unwesentlich dazu beigetragen hat der „mittelalterliche Tourismus“, den man in jenen Tagen „Pilgerfahrt“ nannte. Im Jahr 828 soll es der Legende nach zwei venezianischen Kaufleuten gelungen sein, den Leichnam des Evangelisten Markus unter einer Ladung Schweinefleisch verborgen vom Heiligen Land nach Venedig zu schmuggeln. Die Reliquie ruht in der Basilica von San Marco und ist bis heute ein Besucher-magnet Venedigs. Alles dreht sich um die Piazza San Marco.

Komm’ in die Gondel…

…mein Liebchen, o steige nur ein ! So heißt es in der komischen Operette „Eine Nacht in Venedig“ von Johann Strauß. Keine Sorge. Ich will den geneigten Leser nicht mit Plattheiten langweilen. Verstehen Sie es als Einladung. Reisen Sie nach Venedig solange es noch steht. Viele haben dies getan und gute oder weniger gute Geschichten darüber erzählt. Goethe war dort, aber auch Hemingway und Thomas Mann. Auch ich werde wieder kommen. Im nächsten Jahr, in der Woche vor Carnevale, wenn sich die Maskenträger aus aller Welt langsam in die Stadt schleichen und langsam Besitz von ihr ergreifen; – bis zum Aschermittwoch, denn da ist bekanntlich alles vorbei ! Aber nur für ein Jahr.

Venedig ist eine Inszenierung, ist immer eine Inszenierung gewesen, weswegen viele, die nicht genau genug nachdenken können, nur Flitter und Glitzerkram gesehen haben. Venedig ist eine Inszenierung, aber Venedig hat die Realität, das Leben inszeniert. (Herbert Rosendorfer „Venedig: Eine Einladung“)