Kapadokya Görüsünüzü

…„also ehrlich gez – ich sach wie et is.“, mit diesen Worten begann der Ruhrpottpoet Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeyer in der Rolle des spießigen Kleinbürgers Anfang in den 70er und 80er Jahren häufig sein Bühnenprogramm, und ehrlich, haben wir alle nicht ein wenig mitleidig gelächelt, wenn unsere Eltern zum x-ten Mal in den Bayrischen Wald oder an die Nordsee zur Sommerfrische fuhren ?

Je älter ich werde, desto mehr ertappe ich mich dabei in gleiche Verhaltensmuster zu verfallen, die man bei den Eltern noch für spießig und nicht nachahmenswert hielt. Sicher, die Reiseziele haben sich verlagert. Da fliegt man für einige Tage ins 17. Bundesland nach Mallorca oder eben – wie ich – nach Kappadokien. Vielleicht ist es aber auch ein wenig anders, denn ich will Freunde besuchen, und es ist weniger eine Erholungs- als eine Erkundungsreise. Vor wenigen Wochen habe ich für eine Recherche einen Gedichtband zur Hand genommen und fand darin ein Gedicht von Konsatantinos Kavafis. Es beginnt mit den Zeilen:

Brichst du auf gen Ithaka,
wünsch dir eine lange Fahrt,
voller Abenteuer und Erkenntnisse

…mein Ithaka heißt Uchisar und liegt nur wenige Kilometer abseits der Touristenpfade. Sicher; – gibt es auch hier mittlerweile schicke und weniger schicke Hotels; aber Uchisar ist ein Dorf geblieben und nicht wie Göreme zur Kulisse geworden. Uchisar ist ein wenig wie das kleine Dorf im Oberhessischen, in dem ich aufgewachsen bin und vielleicht ist es mir deshalb so vertraut. Wenn Sie mögen begleiten Sie mich auf neuen Streifzügen durch das Zauberland Kappadokien.

Somewhere over the rainbow; – oder der Mann vom Balkon

Ismail’s Restaurant um Fuße des Burgbergs von Uchisar ist die Traumlage schlechthin. Haute Cuisine darf man nicht erwarten, es gibt bodenständige türkische Hausmannskost. Mittags sitzen die „alten Herren“ des Dorfes unter der mit Weinstöcken umrankten Pergola, spielen Rummy oder Okey und lassen bei einem Glas Chai die Welt an sich vorüberziehen. Geheimtipp ist Ismails Balkon in luftiger Höhe eines Feenkamins. Wer abends dort sitzen möchte um den Sonnenuntergang zu geniessen, sollte sich vorher anmelden, denn das Platzangebot ist auf 8-10 Gäste begrenzt. Ismail’s Gasthaus ist – typisch türkisch – ein Familienbetrieb. Muttern wirbelt in der Küche, Sohn managt den Service, und die Tochter steht im Souvenir-Shop und verkauft die „Stehrümchen“, die zuhause in den Regalen verstauben.

Viele Male bin ich hier eingekehrt und habe immer etwas von jener Gastfreundschaft gespürt, die man nur im Orient findet. Trifft man Ismail bei seinen Einkäufen auf dem Markt oder irgendwo im Dorf, ist man immer noch „sein Gast“; fast überschwänglich wird man begrüsst. Es ist ein wenig so, wie Ralph Waldo Emerson es beschreibt:

„Gastfreundschaft besteht aus ein wenig Wärme, ein wenig Nahrung und großer Ruhe“.

Ismail käme nie auf den Gedanken, einem Gast eine erfüllbare Bitte abzuschlagen. Unter dem Balkon gibt es ein Taubenhaus, aus dem die letzte Taube schon lange ausgeflogen ist; würden diese „Dreckspatzen“ doch den Gastbetrieb nachhaltig beeinträchtigen. In meinem Kopf hat sich eine photographische Idee festgesetzt. Ich möchte die einzelnen Taubenschläge gerne für eine stimmungsvolle Nachtaufnahme mit „Teelichtern“ ausleuchten. Als ich Ismail den Plan erkläre und um Erlaubnis frage, zieht er nur die Augenbrauen hoch und zweifelt wahrscheinlich an meinem Geisteszustand. Als ich abends mit einem Karton mit 100 Teelichtern, Stativ und der schweren Ausrüstung anrücke, versteht er aber, dass das mein bitterer Ernst ist.

Als alles gerichtet ist, bringt Ismails Sohn heißen Tee. Es ist eine schweißtreibende Arbeit , aber es entstehen stimmungsvolle Photos und die Sache hat sich gelohnt. Überhaupt ist Ismail’s Restaurant offensichtlich ein Treffpunkt für Globetrotter, Journalisten und Photographen. Vor einigen Jahren saß ich dort mit Michael Schramm, dem ARD Korrespondenten in Istanbul und seiner Crew, die gerade einen Film über Kappadokien drehten, und wir hatten eine angeregte Diskussion über Quoten und Qualität im Fernsehen. In diesem Jahr treffe ich den Panoramafotografen Heiner Straesser, dessen außergewöhnliche Photos mich begeistern und dessen Kugelpanorama-Aussicht von Ismails Kneipe ich mit freundlicher Genehmigung an dieser Stelle verlinke.

Heiner liebt diese Landschaft wie ich, aber das fällt bei einem Teller heißer Sulu Köfte, einem kalten Efes und einer atemberaubenden Aussicht auch nicht schwer.

Man muss den Blick weiter fassen…

Die meisten Touristen besuchen Kappadokien quasi im „Beipack“ als 2-3tägigen Busausflug von Istanbul oder Antalya aus. Die Touristenströme konzentrieren sich in Göreme. Auf dem Parkplatz vor dem Kirchenmuseum speien Reisebusse Menschenmassen aus, die sich durch die Pracht der frühchristlichen Felskirchen drängeln. Und zwischen den Felsnadeln und Feenkaminen am Ortsrand haben sich Menschentrauben gebildet, aus denen Wortfetzen aus allen europäischen Sprachen und auf japanisch erklingen. Die Speisekarten in den Restaurants sind mehrsprachig und die Hauptstrasse gesäumt mit Geschäften, die billigen Tand unter die Leute bringen und Verleihfirmen, die über Pferde, Drahtesel und Quads alles vermieten, woran der geneigte, moderne Tourist Interesse verspüren könnte. Einen vergleichbaren Rummelplatz findet man in der unterirdischen Hethiterstadt von Kaymakli. Das ist nicht meine Welt. Kappadokien – das ist soviel mehr.

Die Verwaltungsstadt Nevsehir ist sicher keine architektonische Augenweide und landschaftliche Höhepunkte sucht man hier vergebens; und doch findet der reisende Fotograf auch hier seine Motive. Am westlichen Ortsrand wird gerade ein ganzer Stadtteil abgerissen um Platz für neue „Tokio-Häuser“ zu schaffen. Wer also einzigartige Motive aus der Rubrik „Verfallenes und Marodes“ sucht, ist genau hier richtig. Die gesichtslosen Neubauten, denen die alten Gebäude weichen müssen, spiegeln jedoch eine bedenkliche Entwicklung wider. Die Türkei steuert auf eine Immobilienblase zu, welche der in Spanien in nichts nachsteht. Die „Tokio-Häuser“ verdanken ihren Namen den billigen Krediten auf Yen-Basis, mit denen sie von japanischen und türkischen Banken finanziert werden. Auch wenn junge türkische Familien vielleicht aus dem Schoß der Großfamilie ausbrechen wollen; leisten können sich das nur wenige, denn Wohnungspreise und Mieten stehen in krassem Gegensatz zum Einkommen der Landbevölkerung. Währungs- und Zinsrisiko überblickt „Otto-Normal-Türke“ genauso wenig wie die meisten Menschen in unserem Lande. Abgesehen davon frage ich mich, ob gesellschaftlicher Aufbruch und Abkehr von tradierten familiären Strukturen wirklich so erstrebenswert sein können ?

Wer als Photograph außergewöhnliche Motive oder zwischenmenschliche Kontakte sucht, darf sich Orte wie Ortahisar oder Mazyköy nicht entgehen lassen. Der Kale von Ortahisar; einst Rückzugsort der Dörfler, gegen Angriffe von außen, überragt die Kulisse eines harmonisch gewachsenen Dorfes, ohne dass Strommasten und Leitungen den Blick stören. Ich bin dort zur „blauen Stunde“ hingefahren. Für einen Genussmenschen ein Fleckchen Erde, an dem man die kleinen Dinge genießen kann. Rund um den Marktplatz im alten Ortskern kann man bei den Händlern, getrocknete Aprikosen, Nußkerne, Chips und kaltes Bier kaufen und sich dann auf der gegenüberliegenden Talseite einen Standpunkt suchen und genüsslich auf den Sonnenuntergang warten. Schnell ist man von Einheimischen umringt, die zu höflich sind, das seltsame Tun zu kommentieren, die sich aber brennend für Herkunft und Familienstand interessieren. Als die Sonne versinkt, bin ich wieder alleine; die Schatten werden länger und die Silhouette des Burgbergs hebt sich scharf in der Dämmerung gegen den dunkelblauen Himmel ab. Als die Lichter im Ort angehen, drücke ich auf den Auslöser der Kamera und es entstehen Photos, wie ich sie mir erträumt habe.

Das Dörfchen Maziköy ist ebenfalls einer jener Orte, an die ich gerne zurückkehre. Der Ort lebt von der Landwirtschaft. Viele Bauern haben als Nebenerwerb entdeckt, dass sich in den Tuffstein und in die kühle tonhaltige Erde hervorragende Lagerkeller graben lassen. Hinter manchem Bauernhof verbergen sich Erdkeller, in die man auch mit großen LKW’s einfahren kann. Zitrusfrüchte und Kartoffeln aus der ganzen Türkei werden hier angekarrt und bis zum Verkauf gelagert.

Als ich letztes Mal hier war, war das Cafe in der Ortsmitte Anlaufpunkt und Tauschbörse für Neuigkeiten; – doch das Cafe ist geschlossen. Wo früher noch Fähnchen und bunte Wimpel für Turk-Cola warben, herrscht heute gähnende Leere. Wo ist der Besitzer hin ? Ein alter Herr kommt vorbei, sein krummer Rücken, Stock und schlurfender Schritt, zeugen von einem entbehrungsreichen Arbeitsleben: „Wo er hin ist, wollt Ihr wissen ? – Zu den Deutschen natürlich !“.

Am Ende der Dorfstraße steigt eine dünne schwarze Rauchsäule in den spätnachmittäglichen Himmel. Neugierig gehe ich dem nach und schon bald steigt mir der Geruch von frischgebackenem Brot in die Nase. Gastfreundlich werde ich willkommen geheißen und bin mit meiner Kamera schnell mittendrin und bald schon zentraler Punkt des Geschehens. Wann kommen schon einmal Fremde nach Maziköy ? Wahrscheinlich habe ich den ganzen Ort fotografiert, – Kinder, Oma’s und Opa’s die Bäckersfrauen; – einfach alle kommen vorbei. Auch hier entstehen Photos, die immer in Erinnerung bleiben werden. Als ich aufbreche habe ich nicht nur 2 frische, knusprige, wohl duftende Fladenbrote im Rucksack, sondern auch das Versprechen im nächsten Jahr wiederzukommen und die Photos mitzubringen.

Wie war das noch in Kavafis Gedicht ? „Brichst du auf gen Ithaka, wünsch dir eine lange Fahrt, voller Abenteuer und Erkenntnisse…“ Die Wasserfälle von Kapuzbaşi in der Nähe von Yahyali liegen gut 3 Stunden von Uchisar entfernt. Die Fahrt geht vorbei am Hasan Dagi, dessen Silhouette Kegel aus dem frühmorgendlichen Dunst hinter vorgelagerten Hügelketten herausragt. Wir durchqueren, staubige Ebenen, auf denen Wanderarbeiter aus Ostanatolien zur Schafschur ihre Zelte aufgeschlagen haben und erreichen auf alpinen Serpentinenstraßen und durch wildromantische Schluchten schließlich die Wasserfälle. Es ist kein kleines Rinnsal, das hier aus dem Berg tritt. Aus mehreren Einschnitten sprudeln tosende Wassermassen hervor. Die Gischt ist so stark, dass sich kleine Regenbogen über der Schlucht bilden. Hierher treibt es keine ausländischen Touristen her; es ist ein Ausflugsziel für türkische Tagesausflügler. Ganze Familien suchen sich ein ruhiges Plätzchen. Man schwärmt aus, sammelt Holz, zündet am Flussufer ein kleines Grillfeuer an, und schon bald liegen leckere Lammspieße auf dem Rost und verströmen einen unwiderstehlichen Duft. Wir teilen unser Picknick, und unserer Einladung folgt sofort auch die Gegeneinladung. So gesättigt kann man im Schatten ein kleines Nickerchen machen….., bis drei junge Grazien die Ruhe stören. Die jungen Ladies scheinen ein wenig „Türkiye’s next Top Model“ zu spielen und fotografieren sich gegenseitig mit dem Mobiltelefon. Und ewig lockt das Weib! Ich kann es nicht mit ansehen. Die Girls stehen immer im Schatten, das Kopftuch zudem noch tief im Gesicht. Ich gebe ein wenig Fotounterricht und ganz schnell haben sie das Posen für die Kamera drauf. Nicht so routiniert wie Heidi Klum, aber mit natürlicher Anmut.

Wer auf der Rückfahrt noch ein Zuckerl sucht, sollte unbedingt in Selime Rast machen. Selime liegt am Nordwestende des Ilhara-Tals. Im Tal findet man Felskegel und Feenkamine, die jenen von Göreme an Schönheit in nichts nachstehen.

Da war doch noch was ? – Die Sache mit den „Ö’s und Ü’s“

Manchmal will es mir scheinen, als habe der liebe Gott einen Sack voll „Ö’s und Ü’s“ über der Türkei ausgeleert, und die Türken machen reichlich Gebrauch davon. Keine Angst, ich will sie jetzt nicht damit langweilen, dass die türkische Sprache eine agglutinierende Sprache ist, und zum oghusischen Zweig der Turksprachen gehört, oder warum die türkische Sprache so sehr dem Finnischen gleicht. Ich finde aber, dass Otobüs Biletleri oder Radarkontrolü viel charmanter klingt als Autobus und Radarkontrolle. Deswegen habe ich als Titel dieser Kurzgeschichten auch Kapadokya Görüsünüzü gewählt, was man ungefähr mit „kappadokische Ansichten“ übersetzen kann.

So endet die Reise nach Ithaka. Wer jetzt glaubt, das sind doch alles Geschichten, die er schon einmal so oder so anders erzählt hat, dem halte ich ein Zitat von William Faulkner entgegen: „Es ereignet sich nichts Neues. Es sind immer die selben alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden.“

In diesem Sinne; – bis demnächst in Kappadokien!